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Bill Wagner - The pain of finishing lasts a couple of days. The pain of dropping lasts forever

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2020 - Alpenquerung


Geschrieben Oktober 2020


Freitag, 09. Oktober 2020

Als Kind war ich mit meinen Eltern oft in den Bergen wandern, als Jugendlicher war ich mit dem DAV dort, als junger Mann dann alleine.
Als Familienvater gar nicht. Aber als wir 2019 aus dem Italienurlaub durch die Schweiz zurück gekommen sind, habe ich sie gesehen: die Berge. Und das Licht, das Leuchten: es war da. Der Duft nach Heu und Wald und Wiese. Das klingen der Glocken. Ich war sofort völlig in Bann geschlagen. Aber es war schon Oktober und mein Budget für das Jahr endgültig alle. Also wollte ich 2020 so bald wie möglich hinfahren, Ostern sollte es losgehen. Aber dann kam ein Virus namens Corona und am Anfang war die Sterblichkeit sehr hoch, so dass Reisen verboten wurden. Im Sommer hatte ich dann eine Knie-OP, bei der sich die Heilung viel länger hinzog, als ich erwartet hatte. Aber im Oktober 2020 wollte ich nicht länger warten, konnte ich nicht länger warten. Das Leben kann so schnell vorbei sein, Schicksalsschläge können so schnell kommen. Ich wollte unbedingt noch wenigstens ein einziges mal in den Bergen wandern. Mein Kampf gegen die Midlife-Crisis ist langsam zur Verzweiflung geworden: so viel will ich noch erleben, noch mal machen, noch nicht aufgeben, aber die Jahre verrinnen so schnell! Also noch dieses Jahr!

Als Route hatte ich mir was ausgesucht, wo ich leicht mit der Bahn hinkommen kann, also ab Köln über Nacht bis Basel ohne umsteigen und von da aus an die richtigen Berge ran. Und dann auf einem, auch im Oktober noch machbaren Weg über die beiden Alpenhaupt-Kämme.

Bild-Quelle: Google-Maps
Der Plan, Bild-Quelle: Google-Maps


Mein Zug fährt erst um kurz vor Mitternacht ab. Und ich bin ungeduldig. Ich will los. Der Abend will nicht vergehen und mein Rucksack ist schon lange fertig. Es regnet leicht, als ich die drei Kilometer zum Bahnhof wandere, so dass ich meine Klamotten gleich schon mal ausprobieren kann, denn in der Schweiz ist Sauwetter angesagt. S-Bahn zum Bahnhof Deutz, wo Köln wunderschön zeigt, wie bunt es ist: das Bürohaus in Pride-Farben. In Deutz hat mein Zug ein bisschen Verspätung und das mit dem Gleis ist auch unübersichtlich. Aber dann bin ich drin, finde meinen Platz und mache es mir gemütlich. Versuche ich zumindest. An der Gemütlichkeit hindert mich zum einen der Mundschutz, den alle Reisenden wegen der Corona-Viren tragen müssen. Die Sterblichkeit ist zwar seit Ostern auf unter 1% gefallen, aber die Coronoia im Land ist noch schlimmer als Ostern. Das andere, was mich an der Gemütlichkeit hindert, ist das Licht im Zug. Mit ist eng, meine Beine wollen sich bewegen. Ich bin unendlich müde, aber ich kann bei der Helligkeit nicht im sitzen schlafen. Nach müde kommt doof und in meinem Kopf tauchen schon die "Nie wieder"-Gedanken auf.


Samstag, 10. Oktober 2020

Köln Erste Schritte im Regen Erste Schritte im Regen
Köln ist bunt - Erste Schritte im Regen


Endlich hat die Nacht ein Ende und ich kann in Basel umsteigen. Der nächste Zug steht direkt am Bahnsteig gegenüber, so dass ich hier gar keinen Stress habe und so langsam wird es auch hellgrau draußen. Der Plan ist, vom Thuner-See zum Lago Maggiore zu wandern. Aber als ich in Spiez am Bahnhof stehe entscheide ich, dass ich als wichtigstes Ziel dieser Reise wenigstens einen Alpenpass überschreiten möchte. Und ich bin unsicher, ob ich mit meinem großen Rucksack und dem kaputten Knie überhaupt von Spiez bis in die Nähe eines Passes kommen kann. Deshalb entscheide ich mich, von Spiez bis Kandersteg mit der Bahn weiter zu fahren. 25km weniger zu wandern.

Der Fahrkartenkauf geht mit Schweizer Perfektion, der passende Zug kommt, mit Schweizer Pünktlichkeit und wenige Minuten später stehe ich in Kandersteg im Regen. Los geht's. Endlich. Ich habe die Route auf meinem Garmin und zusätzlich noch Landkarten und Kompass dabei. Der Weg ist zunächst flach und einfach. Sehr nass, sehr herbstlich. Irgendwie nicht das "Heidi-Land", was ich im Kopf hatte. Eine schöne Wanderung, ja, aber nicht mein Traum. Der Weg ist länger als ich gedacht hatte, der Rucksack schwerer als erwartet und der Regen nass. Immerhin sind meine Regensachen perfekt: Stiefel, vorher noch mal eingesprüht, Regenhose und das Regen-Cape mit Rucksack-Buckel. So bleibe ich warm und trocken, auch wenn es schüttet wie aus Eimern.

Regen Erster Schnee Daubensee
Sauwetter - Erster Schnee - Daubensee


Es wird kälter, aber 1870m Höhe liegt der erste Schnee. Altschnee, wohl schon ein paar Tage alt, denn es regnet immer noch. Erst ab ca. 1900m geht der Regen langsam in Schnee über. Mein Garmin zeigt die aktuelle Höhe an und ich gehe ab 1971m mein Leben durch. 1971 geboren, ein paar Schritte später stirbt mein Vater, ich mache Abitur, Wehrdienst, Hochzeit. Gleich werden meine Kinder geboren, Scheidung, Lebenswendungen, Entscheidungen. 2038: ich erreiche die Rente und denke an Enkel. An der nächsten Wegbiegung bin ich schon tot und das Leben geht für andere weiter. Die Berge werden dann sicher noch hier sein.

Dann liegt der Daubensee vor mir. Kalt, grau, starkes Schneetreiben. Die Berge oberhalb sind verhüllt, nur ab und zu schauen schwarze Grate und Wände durch die Wolkenfetzen zu mir herab. Ich fühle mich sehr klein und sehr allein. Alpen verbinde ich mit dem Summen der Bienen und dem Läuten der Kuh-Glocken: hier heult nur der Wind. Und die Luft riecht nach nichts. Das ist keine Alpenwanderung, wie ich sie mir erträumt habe. Das ist kein Spaß, dass ist Ernst. Wenn ich jetzt auf dem vereisten Schnee abrutsche, werde ich sterben. Dann bläst der Wind für einen Moment ein Fenster frei und ich kann den Gemmi-Pass vor mir sehen. Ich sehe Gebäude und sofort ist das Gefühl ein anderes. Mut und Tatkraft erfüllen mich und ich gehe entschlossenen Schrittes die letzten Meter zum Berghotel.

Am Gemmipass Am Gemmipass Am Gemmipass
Am Gemmipass


Die anderen Gäste schauen mich an wie einen Alien, als ich mir im Vorflur den Schnee abschüttele. Drinnen ist es warm und gemütlich und ich esse einen sehr leckeren Teller Pilzrösti. Das ist schon ehr der Urlaub, den ich mir vorgestellt habe.

Aber es ist Oktober, die Dunkelheit kommt früh und ich kann nicht ewig hier sitzen bleiben. In diesem Hotel kostet die übernachtung viel mehr, als ich mir leisten kann. Also wieder raus in den Schneesturm. Der Weg herauf ging relativ flach, der Pass ist wie eine Tischkante, wo es steil, sehr steil runter geht. Ich bin kaum ein paar Schritte auf die Kante zu gegangen, stürmt mir ein Läufer entgegen: Shorts, Tshirt und Five-Finger-Schuhe! Ich werd' bekloppt! Der Typ rennt mit kurzen Gruß vorbei, dreht aber wohl am Hotel um, denn ich habe kaum 100m geschafft, als er schon wieder von oben runter kommt und mich überholt.

Gemmipass Südseite
Gemmipass Südabstieg


Der Weg ist spektakulär an die Hänge geklebt und windet sich den steilen Berg hinunter. Bald komme ich am Beginn des berühmten Daubenhorn-Klettersteiges vorbei. Ich hatte mir zu hause überlegt, ob ich meinen Urlaub um einen Tag verlängere, um diesen Klettersteig zu begehen. Und wenn es jetzt angenehmes Spätsommer-Wetter wäre, würde ich das sicher machen. Bei Schneesturm ist davon natürlich keine Rede und ich habe deshalb auch die Klettersachen gar nicht erst dabei.

Weiter runter. Ich mache immer wieder Fotos, bis auf einmal mein Handy-Ladezustand auf Null ist. Fehlbedienung, ich habe die Kamera an gelassen. Mein Knie tut jetzt doch wieder etwas weh, es wird schnell dunkel und ich mache sehr langsam. Dann entscheide ich mich, dass ich erst mein Handy wieder aufladen will, denn wenn ich jetzt und hier falle, will ich wenigstens Hilfe rufen können. Also suche ich mir am Wandfuß einen Steinschlag geschützten Platz und richte mir ein Biwak ein. Ich entfalte meinen Schlafsack in den Wasserdichten Biwaksack, den ich für genau solche Notfälle dabei habe und hänge mein Handy an die Powerbar. Hier unten ist wieder Regen, immerhin etwas wärmer als der Schnee da oben und außerdem ist es fast windstill. Prima, denke ich und bin schnell eingeschlafen.

Nach ein paar Stunden wache ich wieder auf, zitternd und Eiskalt. Mein Biwaksack ist nicht so wasserdicht wie ich gehofft hatte und mein Schlafsack ist nass. Der Himmel über mir ist wunderschön sternenklar und das Gras um mich herum überfroren. Mir ist klar, dass ich eine Nacht bei Frost in einem nassen Schlafsack vermutlich nicht überleben würde. Plan B muss her und zwar sofort. Zitternd packe ich meine Sachen in den Rucksack, setze die Stirnlampe auf und mache mich an die weiteren Abstieg. Ich hatte erst Angst, dass mein Knie jetzt gar nicht mehr will, aber oh Wunder: es läuft nach den paar Stunden Schlaf wieder wie frisch geölt. Auch ich bin sehr gut erholt und schon bald sehe ich die Lichter von Leukerbad vor mir. Ich gehe durch den nächtlichen Ort, sehe an einem Haus ein "Hotel"-Schild und trete ein. Der Portier schaut mich überrascht an, bietet mir aber völlig unkompliziert und bezahlbar ein Zimmer. Da hänge ich meine nassen Sachen und den Schlafsack zum Trocken auf. Als ich mein Handy und die Powerbar an's Ladegerät hängen will, entdecke ich die schlaueste Mehrfach-Wand-Steckdose der Welt. Cleveres Ding! Ich lege mich nach einer wunderbaren heißen Dusche in's kuschelige Bett und schlafe erholsam weiter.

Geniale Schweizer Gemmipass Südseite
Geniale Schweizer - Gemmipass von Süden aus


Sonntag, 11. Oktober 2020

Morgens gibt es passables Frühstück: kein Mega-Buffet aber Brot, Käse, Marmelade und Kaffee. Das reicht und ich bin froh, dass ich in der Nacht nicht in eines der teuren Hotels gestolpert bin. Auf dem Zimmer packe ich meine getrockneten Sachen in den Rucksack und mache mich an den Abstieg. Jetzt, jetzt ist es schön! Bestes Wetter, tolle Aussichten, grüne Wiesen und herrliches Herbstlaub. Mir ist völlig klar, dass ich ab jetzt jedes Jahr so eine große Wanderung machen werde.

Morgennebel Blick in's Rhonetal Von Leukerbad nach Leuk
Morgennebel - Blick in's Rhonetal - Von Leukerbad nach Leuk


Ich erreiche bei Leuk das Rhone-Tal, das ich bis Brig nach Osten flussaufwärts gehen will. Bis hier hin war leicht und schön. Das Tal ist flach. Lang und flach. Der kräftige Westwind schiebt mich voran und ich marschiere flott weiter. Flach. Irgendwo ist meine Flasche wieder alle und ich wähle einen der Zuflüsse zur Rhone, die von links von den Bergen runter strömen, um sie mit dem Filter wieder voll zu machen. Dabei fallen mir die Rhone-Ufer auf, die hier aus sehr weichem, rutschigem Sand bestehen. Ich traue dem Ufer nicht zu sehr und mache meine Pause mit ein bisschen Abstand. Flach geht es weiter, bis ich ein paar Stunden später das Spiel wiederhole und die Flasche wieder voll pumpe.

Blick in's Rhonetal Am Rhone-Radweg Am Rhone-Radweg
Blick in's Rhonetal in Leuk - Am Rhone-Radweg


Am Ortseingang von Visp entdecke ich einen sehr schönen und einladenden Campingplatz. Aber es ist erst 15:00 und so früh will ich den Tag nicht beenden. Also weiter. Flach. Meine Füße fangen an weh zu tun und ich bin schon recht müde, als ich um 17:55 den nächsten Campingplaz erreiche. Es wird schon wieder dunkel und ich bleibe hier. Also gehe ich Duschen und lege meinen Schlafsack im Biwaksack an eine Windgeschütze stelle. Gute Nacht.


Montag, 12. Oktober 2020

Allerdings ist der Boden hart, der Wind kalt und ich bin, wenn ich um 20:00 in's Bett gehe, um spätestens 05:00 wach. Also aufstehen, leise fertig machen und weiter marschieren. Flach. Der Rhone-Radweg ist toll für RadlerInnen aber echt langweilig für Wandernde wie mich. Schön, aber langweilig.

Am Rhone-Radweg Am Rhone-Radweg Am Rhone-Radweg
Am Rhone-Radweg


Ich erreiche kurz nach Sonnenaufgang Brig. Ab hier will ich dem Stockalperweg folgen. Wikipedia sagt: "Der Stockalperweg ist ein alter Saumpfad, der von Brig über den Simplonpass und durch die Gondoschlucht nach Gondo führt. Der bereits bestehende historische Saumpfad wurde im 17. Jahrhundert vom Briger Kaufmann Kaspar Stockalper ausgebaut, um mit Maultierkolonnen den alpenquerenden Handel zu begünstigen. Die Via Stockalper ist ein Schweizer Kulturwanderweg, der den Spuren Stockalpers auf dem Stockalperweg von Brig (720 m) über den Simplonpass (2006 m) nach Gondo (855 m) folgt." Die Menschen in Brig kennen den Stockalper-Palast so gut wie wir Kölschen den Dom. Ich erfahre, dass noch heute Verwaltung, Rat und Gerichtsbarkeit im Schloss sind. "Der Palast lebt!" wie mir ein alter Mann, den ich um ein Foto von mir bitte, versichert.

Ab hier geht mein Weg steil bergauf. Meine Füße tun weh, das ist alles anstrengend und irgendwie weiter, als ich mir das vorgestellt habe. Meter um Meter bergauf. Die Sonne scheint und das Wetter ist wunderbar, aber die Sonne scheint noch nicht in mein Herz. Auf einmal muss ich sogar wieder absteigen! Der Pfad hatte sich über eine Schulter geschlängelt und führt jetzt wieder runter. Der Talkessel ist wirklich wunderschön. Zwischen den Bergen, auf denen der weiße Schnee glänzt, grüne Wiesen und prächtige Herbstwälder. Wow, einfach wow. Ich pumpe meine Flasche wieder voll und trinke das köstliche Wasser in kleinen Schlucken.

Stockalper-Palast Stockalperweg Stockalperweg
Stockalper-Palast in Brig - Stockalperweg


Hat das Wasser Zauberkräfte? Ab diesem unglaublich schönen Talkessel schleiche ich wieder fröhlicher bergauf. Ganz langsam. Aber stetig. Und das Tal ist überwältigend. Hier liegt schon ab 1500m der erste Schnee, die Farne und Gräser sind überfroren und die Schönheit der Natur dringt tief in mich ein. Es heißt: "Wer einmal das Licht der Berge getrunken hat, wird nie wieder gänzlich unglücklich sein". Jetzt und hier trinke ich dieses Licht wieder. Lasse es wie das Wasser in mich hinein strömen. Die Wanderung ist jetzt genau so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Die perfekte Kombi aus allen Brocken-Marathons, Harzquerungen und Bergwanderungen meines Lebens. Glück erfüllt mich und heilt alle meine Schmerzen. Mein Knie ist endlich gesund, meine Blasen machen gar keine Probleme und sogar der Rucksack wiegt viel weniger als noch vor ein paar Stunden.

Stockalperweg Stockaplerweg Stockalperweg
Stockalperweg


Bei 1600m kommen mir die Tränen vor Glück. Ich weine vor Freude, vor tiefster innerster Freude, dass ich so viel Glück erleben darf. Die überwältigende Schönheit dieser Berge erschüttert mich im innersten und die Seligkeit strömt als Tränen aus meine Augen. Danke. Danke, Danke, dass ich das hier erleben darf.

Stockalperweg Stockaplerweg Stockalperweg
Stockalperweg


Und schon bald erreiche ich den Simplonpass, völlig glücklich. Hier zieht es mich zum so genannten Hospiz. Ich habe nach dem Schild eine Art Herberge oder Hütte erwartet. Aber es ist ein gewaltiges Haus. Riesig groß, als größtes aller Häuser hier oben, steht es alleine in der Landschaft. Es ist so groß, dass die viele Meter hohe Flügeltür am Eingang von weitem winzig aussieht. Alles ist völlig still und ich bin nicht sicher, ob überhaupt offen ist. Vorsichtig drücke ich die Türklinke und stelle fest, dass die Tür sich öffnen lässt. Ich treten in einen hohen, dunklen, gewölbten Gang. Meine Schritte hallen in dem leeren Gemäuer auf den großen Steinplatten de Bodens. "Hallo?" Es gibt kein Echo, aber auch keine Antwort, als ich fragend in die schweigenden Gänge rufe. Stille. Ich gehe vorsichtig, fast ängstlich eine Etage das enorme Treppenhaus hinauf. Das Licht auf den Gängen geht automatisch geräuschlos an, wenn ich einen Flur betrete. "Hallo?" frage ich erneut.

Dann eine Antwort. Eine Stimme aus einer Kammer. Ich trete ein und begegne einem sehr alten Mann, der mich freundlich und warm anschaut. Ich frage ihn, ob ich hier übernachten könnte und er bejaht. Er sucht einen Schlüssel und bringt mich eine weiter Etage hinauf zu einem Zimmer. Dort klopft er an die Tür und wartet einen Moment, bis er sich zu mir umdreht und erklärt, das wäre wegen des Geistes. Dann öffnet er und wir gehen in ein sehr gemütliches Zimmer. Der Preis ist fair und ich beschließe die Nacht hier zu verbringen. Das ganze erinnert mich zwar erschreckend an Steven King's Shining, aber irgendwie ist es trotzdem nicht zu unheimlich. Mein Gefühl sagt mir, dass ich hier richtig bin.

Stockalperweg Stockaplerweg Simplon-Hospiz
Stockalperweg - Der Simplon-Hospiz


Um 18:00 hatte der alte Mann mich zum Gebet eingeladen und ich gehe frisch geduscht hinunter auf die erste Etage, wo ich ihn getroffen hatte. Und dort ist eine Kirche, eine richtige Kirche, mitten im Gebäude. Der alte Mann trägt jetzt ein Chorhemd und ist offensichtlich der Pfarrer. Außer ihm und mir ist noch ein Kirchenschüler hier, der dem Pfarrer bei der Zeremonie assistiert. Das ganze ist schon außergewöhnlich. Der Pfarrer, alias Portier singt und predigt auf Französisch. Seine Stimme ist voll und tief und füllt den großen Raum, während von draußen das letzte Tageslicht durch die Fenster in der meterdicken Mauer leuchtet.

Nach der Messe geht der Schüler mit schnellen Schritten aus der Tür und der Alte verschwindet durch eine kleine Pforte hinter dem Altar. Trotz der bizarren Umstände habe ich ein gutes, warmes Gefühl in mir. Es fühlt sich richtig an, so seltsam es auch scheinen mag. Ich verlasse die Kirche und gehe den Flur entlang, wo es nach Essen duftet. Tatsächlich gibt es hier einen großzügigen Essraum mit einfachen aber soliden Holztischen und Bänken. Zu meiner Erleichterung bin ich hier nicht alleine sondern es sind noch fünf andere Gäste anwesend. Ich teile Tisch mit einem älteren Ehepaar, das heute hier seine Hochzeitsreise von vor 30 Jahren wiederholt.

Nach dem Essen kehre ich in mein Zimmer zurück aber meine Gefühl sagt, dass das Schönste am Reisen die Begegnungen sind. Also komme ich zurück in den Speisesaal, wo die drei anderen Gäste, die ich vorhin nicht kennen gelernt habe, noch am Tisch sitzen. Ich frage, ob ich mich anschließen darf und bin herzlich eingeladen. Wir wechseln allerdings in eine anliegende Stube. Der Pfarrer ist jetzt Hüttenwirt und bringt Rotwein und Bier. Wir sitzen beisammen, reden über unsere Reisen, Pläne, Leben. über den Corona-Virus und die Politik. Menschen sich, die Nachts am Berg im Hospiz treffen. Wie wohl schon in all den Jahrhunderten, seit dieses Gemäuer als Schutz und Obdach für genau solche Menschen errichtet wurde. Wir verabschieden uns mit herzlichen Händedruck. Eine Geste, die wegen der Coronoia verboten ist, aber so unendlich gut tut.

Simplon-Hospiz Kirche im Simplon-Hospiz Am Simplonpass
Stockalper-Hospiz - Am Simplonpass


Dienstag 13. Oktober 2020

Ich wache auf und dusche, wie zu hause jeden morgen, kalt. Allerdings ist das Wasser hier so eiskalt, dass ich nach Luft ringe. Nach dem Duschen ist meine Haut knallrot und glüht. Jetzt bin ich wach. Ich gehe wieder in die Kirche zum Morgen-Gebet. Der Hüttenwirt ist jetzt wieder Pfarrer und außer mir ist das Ehepaar von meinem Tisch gestern Abend dabei. Ich als Quäker hab es ja sonst nicht so mit den Katholischen Zeremonien aber ich fühle mich jetzt und hier wohl damit. Der Alte fragt mich, ob das ok für mich ist, dass er nur auf Französisch predigt. Ich antworte, dass wenn Gott eine Botschaft für mich hat, er sich auf jeden Fall verständlich machen kann, egal in welcher Sprache der Menschen. Der Pfarrer lächelt warm.

Beim Frühstück habe ich mich über die Einreise-Bedingungen nach Italien erkundigt. Coronoia, neue Regeln, neue Verordnungen, neue Formulare. Ich entscheide, dass mir das zu kompliziert ist. Aber irgendwie weiß ich auch, dass dieses Hospiz das Ziel meiner Reise war. Ich wusste das zwar vorher nicht, aber jetzt fühle ich es mit großer Gewissheit.

Ich verlasse das Haus und gehe zur Bushaltestelle genau davor. Die Fahrt bis Brig verläuft ereignislos, denn der Bus ist perfekt pünktlich, der Fahrer hilfsbereit und kompetent. Natürlich kann man bar bezahlen und er weiß sogar, wann die Züge in Brig abfahren. Dort am Bahnhof kaufe ich die Fahrkarte für die Heimfahrt und bin bald zurück in Deutschland, wo Verspätungen und Zugausfälle die Reise noch ein wenig verzögern. Ich glaube, die Schweizer sitzen mit mitleidigem Lächeln auf ihren Bergen und blicken kopfschüttelnd auf die Barbarenländer um sie herum.

Der Marsch vom Bahnhof nach hause in der warmen Abendsonne schließt das Abenteuer perfekt.

Fazit: Wunderbar, jedes Jahr wieder.

Mein treuer Rucksack
Mein treuer Rucksack



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