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2020 - der erste Marathon von Annette
Geschrieben August 2020 Sieben Wochen nach der Meniskus-OP. Immer noch Schmerzen, denn der Doc hat nicht nur am Meniskus sondern auch noch an anderen Sachen rum gebastelt (Micro-Fracturing, Faser-Knorpel, Chondroplastik und was weiß ich noch). Am Tag vor der OP konnte ich 10km schmerzfrei laufen: seit dem NULL. Aber es wird langsam besser: immerhin kann ich jetzt, sieben Wochen nach der OP, wieder langsam spazieren gehen. Nie wieder Vollnarkose! Das nächste mal, wenn ich irgendwen an meine Sachen oder an meinen Körper ran lassen muss, will ich zuschauen. Ich schreibe jetzt nicht, welche Klinik das war, sonst kriege ich schon wieder eine Abmahnung. Wahrheit wird bestraft. Susanne hat, weil dieses Jahr wegen Corona so viele Veranstaltungen ausgefallen sind, einen privaten 24h-Lauf organisiert und mich eingeladen. So wie ich sie verstanden hatte, war das wohl ein Sportplatz im Süden von Köln. Als Annette und ich abends gegen sieben endlich dort angekommen sind (früher ging wegen der Arbeit leider nicht), war es immer noch über 30°C. Und es ist kein abgelegener Sportplatz, sondern eine öffentliche Aschenbahn am Rheinufer, frei zugänglich in einem Park. überall sind Leute, die lagern, grillen und Musik hören und ganz viele tobende Kinder. Statt abgeschiedener Ruhe und meditativem Laufen in der Stille waren wir hier irgendwie mitten auf dem Präsentier-Teller. Ich komme mir beobachtet vor und habe ein wenig Bedenken. So viele Party-Gänger hier: kann ich mein Zelt hier friedlich aufbauen, oder bekommen wir dann ärger? Ich fürchte mich vor Betrunkenen und Streitsüchtigen. Annette geht es ebenso. Wir haben uns Pizza mit gebracht und setzen uns erst mal vor unser Zelt. Wie Camping. Wir müssen noch nicht laufen; erst mal Urlaub. Ankommen. Wir treffen andere LäuferInnen und hören die Geschichten von Hitze und SportlerInnen, die aufgegeben haben. Schließlich ist es über 30°C, fast Windstill und die Sonne knallt. Aber nichts ist so warm wie die Begrüßung von Susanne! Wunderbar! Wir fühlen uns willkommen und sind erst damit richtig angekommen. Annette zieht sich die Sportschuhe an, ich bleibe in meinen Sandalen und wir wandern los. Wegen meiner Knie-OP ist an Laufen gar nicht zu denken. Ich will hier wenigstens 10km schaffen und träume von einem Halbmarathon. Ich fühle mich alt, schwach, verkrüppelt und ausgeschlossen. Es ist noch schlimmer als vor ein paar Wochen beim Kleeblatt. Damals war ich kurz vor der OP und zuversichtlich, dass ich schnell wieder oben-auf sein würde. Jetzt bin ich ernüchtert. Annette fragt mich, wie viele Runden denn einen Halbmarthon ergeben und ich rechne aus: eine Runde auf diesem Platz sind 333m, also 1/3km, also brauche ich 63 Runden und ein paar Meter. Lang. Wir wandern weiter und sind sofort unsicher: haben wir schon drei Runden? Oder ist das nicht sogar schon unsere vierte? Ich gehe einmal zum Auto und schon wird das Rechnen noch komplizierter, denn Annette hat eine Runde Vorsprung. So wird das nichts! Susanne hat einen Edding und wir machen uns ab jetzt für je fünf Runden einen Strich auf den Arm. Ein Halber ist also zwölf Striche plus drei Runden; ist klar. Ich weiß nicht genau wann es passiert ist, aber irgendwann sagt Annette, dass sie heute ihren ersten MARATHON machen möchte. Ich wiederhole: MARATHON, den ersten, bei dieser Hitze, in der Nacht, ohne gezieltes Training. Einfach so, als Spaziergang. Wow! Ich bin spontan beeindruckt von diesem Entschluss. Ich spüre ihre Entschlossenheit, ihren Willen, ihre innere Kraft. Das ist keine Laune und auch keine lauwarme, halbherzige Idee. Das ist ein Plan. Geil! Ich setze mich erst mal in die Campingstühle und genieße den Sommerabend. Ich schone mein Knie und sie marschiert. Annettes Marschtempo ist hoch und ihr Rhythmus ist gut. Alle fünf Runden, wenn sie ihren Strich auf den Arm gemacht hat, erinnere ich sie an Essen und Trinken und ab und zu mache ich eine Runde mit. So schaffe ich meinen Halb-Marathon noch vor Mitternacht: Annette ist da schon bei 26km (also 86Runden bzw. 17 Striche). Es werden weniger Kinder auf der Strecke und irgendwann auch weniger Picknicker. Aber der Park ist immer noch erfüllt von Radlern und die Party-Musik ist deutlich hörbar. Köln ist schon eine geile Stadt! Gegen 01:30 gehen wir erst duschen und dann in's Zelt. Aber ich kann nicht schlafen, denn ich weiß, wie viele Leute im Park sind. Und wenn ich im Zelt liege, dann sehe ich keine entspannten Touristen oder Urlauber, wie sonst beim Camping. Ich sehe auch keine ausgelassenen, aber friedlich feiernden Party-People. Ich sehe vor meinem inneren Auge Schläger, Gewalttäter, Asoziale und ich habe Angst. Angst um mich und vor allem um Annette. Geht gar nicht. Ich stehe leise wieder auf und setze mich vor das Zelt. Hier draußen habe ich alles im Blick. Friedliche Nacht am Rheinufer. Wunderschön. Aber kaum habe ich ein paar Runden alleine spaziert, kommt Annette aus dem Zelt und schließt sich mir an. Anschließen? No, Maam, die hetzt mich! Sie ist voller Energie, Elan und Kraft. In den Tempo kann und will ich nicht marschieren. Nicht jetzt, nicht hier und nicht heute. Heute Nacht ist ihre Nacht, ich bin nur Supporter. Und das ist toll. Ich bin nicht nur überflüssiger Ex-Läufer und „war-auch-mal-fit“ sondern ich bin Supporter. Das gibt mir Kraft die ich an Annette weiter geben kann. Ich habe Susanne ca. 1000km weit unterstützt: jetzt ist Annette dran. Und es läuft bei ihr. Ich erzähle allen anderen LäuferInnen, was sie vorhat. Und Annette kommt aus der Rolle der Freundin des „war-auch-mal-fit“ zur echten Teilnehmerin. Sie ist dabei und ich sorge für sie. Ich sitze in meinem Stuhl und zwinge mich in jeder Runde, wenn sie vorbei kommt, auf zu stehen und an die Strecke zu kommen, egal wie müde ich jetzt bin. Ich schreibe allen ihren Freundinnen, was Annette hier heute leisten will und überbringen die zurück kommenden Grüße zusammen mit den Getränken an die Lauf-Bahn. Jo GIRL! Die Km schrumpfen! Jetzt hat Annette schon über 100 Runden geschafft und wird von allen anderen mit unterstützt. Alle wissen, was der erste Marathon bedeutet! Annette zweifelt nie und wenn doch, dann lässt sie es niemand sehen. Sie will und sie macht. Ohne Stress, ohne Hektik aber mit Energie. So macht Support gleich noch viel mehr Spaß. Und dann ist es so weit: die Rest-Runden bis Marathon werden einstellig! Das Fieber erfasst alle anderen LäuferInnen die noch auf dem Kurs sind und wir feuern Annette gemeinsam an. Und Annettes Zielstrebigkeit und Erfolgs-Gewissheit steckt wiederum die anderen an: Kerstin zum Beispiel hat ihren Plan, drei Marathons zu schaffen, wieder aufgenommen und läuft eisern auf der staubigen Piste. Die Sonne ist wieder da und scheint warm und wärmer. Die letzte Runde: einmal am Zelt vorbei, 100m die Bahn hoch, 100m die Bahn zurück: FINISH! 42,195km geschafft. Annette ist Marathoni! Und ich fühle mich als der beste Supporter der Welt und glücklicher, als wenn ich heute selber alleine 100-Meilen geschafft hätte. Ich hoffe, dass ich irgendwann doch wieder selber laufen kann, aber für Menschen wie Annette und Susanne gibt Supporten mehr als selber laufen.
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