Ann Trason - It hurts up to a point and then it doesn't get any worse
Du sieht grade:
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2016 - TorTourdeRuhr
Geschrieben Mai 2016
Ich weiß genau, dass flache Strecken auf festem Boden mir nur weh tun. Und Trail-Läufe,
Berge und Höhenmeter machen mir besonders viel Spaß. Und jetzt stehe ich in Winterberg an der
Quelle der Ruhr und will von hier aus bis zur Mündung auf flachem Asphalt laufen? ZWEIHUNDERTDREISIGKILOMETERWEIT???
Bin ich bescheuert? Warum tue ich mir das an?
Weil ich es kann und genau das beweisen will. Mir und allen da draußen. Ich bin ein Angeber.
Nicht mit Geld, das ist lächerlich. Denn Geld kann man klauen, erben, stehlen, leihen, gewinnen, etc. etc.
Ob jemand Geld hat oder nicht, ist zu 95% Zufall, damit kann nicht angeben. Ich gebe mit Leistung an.
Meiner eigenen, vorzugsweise.
Stehe ich zum Angeben hier an der Quelle? Ja, auch. Und ich erhoffe mir zwischen Start und Ziel
viele schöne entspannte, stressfreie Stunden, in denen ich nichts außer laufen muss. Wie Urlaub,
nur mit Schmerzen (Zitat Sylvie Honnet, Biel 2005).
Als Crew mit dabei sind mein Neffe Elias und Susanne Alexi.
Wir drei haben 2014 die TTdR geschafft,
nur dass Susanne und ich diesmal die Rollen tauschen wollen.
Am Start in Winterberg ist es trocken aber kalt, fast 20°C kälter als in den
Tagen davor in Köln. Ich bin sehr dick und warm eingepackt und fühle mich mehr wie ein Zuschauer.
Mein Kopf hat noch nicht begriffen, dass diesmal meine eigenen Beine laufen sollen.
Irgendwann kommt doch die Läuferlaune auf, wie man hier gut beobachten kann: ein Flo kommt in den Flow.
Susanne läuft die ersten 20km mit mir, damit ich nicht wie ein Stier losrenne. Alle anderen machen nämlich genau das und nach nicht mal 5km sind wir fast die letzten. Elias hat seinen ersten VP aufgebaut. Zuverlässig genau da, wo er ihn angekündigt hat, genau so, wie er ihn angekündigt hat und genau dass, was ich brauche. Perfekt.
In der Tasse ist übrigens blaues Sportler-Zeug, von mir "Schlumpf-Pipi" genannt. Zusammen mit Schlumpf-Techno sicher einer der Schlüsselfaktoren für mich zum Laufen.
Die TTdR ist ein Selbstversorger-Lauf, man braucht eine Crew. Und Susanne als erfahrene Ultaläuferin und herzensgütigster Mensch voller Fürsorglichkeit und positiver Energie ist da die Beste. Zusammen mit meinem Neffen Elias, der zupackende Problemlöser, der Macher, Navigator, Organisator und Alles-Könner habe ich sicher die beste Crew aller Läufer hier am Start. Und Susanne und Elias sind nicht nur zwei starke Säulen auf jeweils ihren Gebieten, sie bilden auch zusammen ein tolles Team. Wer mit so einer Unterstützung nicht ankommt, kommt nie an.
Jetzt bin ich drin, im Lauf. Tempo ist dank Susanne eingenordet, der Tag läuft. Der Wetterbericht hatte zusätzlich zu der Kälte auch viel Regen und steifen Gegenwind angekündigt. Glücklicherweise hat sich der Niederschlag auf einige Schauer beschränkt und die Temperaturen wurden gegen Mittag sogar mal zweistellig.
Lustig waren immer wieder Radgruppen, die teilweise wie wir auf dem Ruhrtal-Radweg unterwegs waren. Wir wurden immer wieder angesprochen, weil wir durch unsere T-Shirts als Gruppe erkennbar waren, und nach dem wohin und wie-lang gefragt. Radfahrer, die über Pfingsten die Ruhr mit zwei oder drei Übernachtungen abfahren, halten sich selber durchaus für Sportler, bis sie erfahren, dass wir das in 38h am Stück abreißen. Die Kommentare reichen von: "Respekt!" bis "Oh mein Gott!".
Die Uhrzeit in den Fotos steht übrigens noch auf Winterzeit, ich hatte vergessen, die Kamera-Uhr vor zu stellen. Deshalb musst Du immer eine Stunde drauf rechnen.
Mir ist so ab dem ersten Marathon aufgefallen, dass ich mich mit dem Tempo doch sehr zurück halte. Genau genommen bin ich langsam. Ich bin einer der Letzten im Feld und jetzt schon einige Minuten hinter den in der Ausschreibung genannten Cut-Off-Zeiten. Ok, das ist nicht schlimm, denn die werden hier nur als Richtschnur gesehen. In anderen Rennen wäre ich jetzt schon raus. Aber es beunruhigt mich, trotz Susannes gutem Zuspruch. Sie sagt mir immer wieder, dass jede am Anfang gesparte Kalorie im Ende noch wichtig wird und rät mir dazu, das Tempo weiterhin so tief zu halten.
Gegen Mittag kommt meine Schwester an die Strecke und begleitet Susanne und Elias viele Stunden. Das tut mir sehr gut, denn ab Nachmittag werden meine Zweifel immer größer. Ich bin so langsam, ich hänge immer weiter hinter meinem Plan und hinter den Cut-Offs und ich werde auch irgendwie nicht mehr schneller. Wie ein Boot, dessen Höchstgeschwindigkeit durch die Rumpf-Form vorgegeben ist, komme ich nicht mehr in Schwung.
Ich Verzage. Es ist noch so weit, so schrecklich weit. Ich habe hier nicht mal die Hälfte geschafft und bin jetzt schon so erschöpft. Wie soll das weiter gehen? Klar, ich habe schon zwei Marathons in den Beinen, aber das ist ja noch gar nichts, im Verhältnis zur Gesamt-Distanz.
Ich treffe eine Entscheidung: Musik muss her, jetzt. Ich wollte mir das für die Nacht aufheben, als Kick für schwere, dunkle, kalte Stunden, aber ich brauch es jetzt. Was nützt mir ein Player, den ich erst aufsetze, wenn das Rennen für mich schon gelaufen ist? Also los. Musik an.
Und es hilft, ich komme wieder ein bisschen besser voran. Ich hatte mir den Player vorher sorgfältig mit Schlumpf-Techno, auch Nightcore genannt, bestückt und feuere ihn jetzt ab.
Immer wieder komme ich an Stellen vorbei, die aus den beiden Rennen mit Susanne kenne. Ja, hier habe ich gestanden, ja da war ich, etc. Wie oft seit 2010 habe ich mir vorgestellt, selber einmal hier an zu laufen, nicht nur zu warten. Und jetzt mache ich es! Ich mache es. Unglaublich.
Andere Streckenteile dagegen überraschen mich. Am Schwimmbad "Nass" in Arnsberg wo ich in den Vorjahren mit Elias Eis gegessen und Kaffee getrunken habe, ist heuer niemand. Kein TTdR Shirt weit und breit? Wo sind die alle? Seltsam. Aber der Start der 100Meiler ist jetzt ein paar Kilometer weiter, wo ich es noch nicht kenne. Ich bin verwirrt. Nach so vielen Kilometern mit immer dem gleichen Ablauf an "meinen" VPs mit "meinem" Tisch und "meinem" Stuhl ist hier alles so unbekannt. Sorry, ich komme aus der Wildnis, eure Zivilisation verwirrt mich. Es gibt so viel Leckeres und ich weiß nicht was ich will. Jemand entscheidet für mich und drückt mir gute warmen Kartoffelbrei in die Hand. Danke! Und Elias merkt, dass der Kartoffelbrei zu heiß ist, und kippt kaltes Wasser drauf. So geil! Diese Crew ist der Hit.
Außerdem macht mein Team mir immer und überall Kaffee, guten lauwarmen, trinkfertigen Kaffee. Und als ich danach frage, zaubern sie mir Pommes und vegetarische Burger vom Schnellrestaurant. So geil! Beste Crew ever!
In der letzten Dämmerung erreiche ich Kilometer 100! Über 13h für 100km, ich bin sooo langsam. Aber sie haben für mich jede Menge Wunderkerzen aufgestellt, und ich werde jetzt schon beglückwünscht, als hätte ich das Ziel erreicht. Dabei habe ich noch nicht mal die Hälfte geschafft.
Und jetzt kommt die Nacht, es fängt wieder an zu Regnen, der Wind nimmt Fahrt auf. Der VP, der bei KM 102 sein sollte, kommt nicht. Gar nicht. Nie. Susanne ist jetzt auf dem Rad bei mir. Sie motiviert mich, spornt mich an, glaubt an mich. Sie hält zu mir und gibt mir Mut, nicht auf zu geben. Elias ist weiterhin mit dem Auto unterwegs. Jedes mal, wenn ich von einem seiner unzähligen VPs loswill, muss ich es wissen, wie lang meine nächste Etappe wird. Und ich frage ihn jedes mal: "Elias, wann sehen wir und wieder?" und er reißt jedes, jedes, jedes mal den selben Scherz: "Mmm, weiß nicht, ich ruf dich an.". Dann sagt er mir eine Zahl zwischen vier (hurra) und acht (oh nein) Kilometer und ich gehe weiter.
Mein Navi zeigt mir neben der Karte und dem Batterie-Status nur die Rest-Kilometer an. Ich kann mich dadurch zwar immer freuen, wenn es wieder einer weniger ist; um die KM bis zum nächsten Treffen aus zu rechnen, ist es aber kompliziert. (Stand jetzt 123 Rest-Kilometer und nächstes Treffen in vier Kilometer = Treffen bei KM119).
Irgendwann vergesse ich so wie so, wann wir uns wieder sehen wollten, und lauf einfach weiter.
Elias schickt immer wieder Status-Updates an meine Familie während Susanne auf Facebook über den Verlauf berichtet. Und sie bestellen mir immer wieder die Grüße und die gedrücken Daumen und die ermutigenden Kommentare, die zurück kommen. Das hilft mir jetzt sehr. Ich weiß, da draußen denkt jemand an mich und glaubt an mich, auch wenn ich verzweifele.
Mitten in der Nacht. Messtelle Hengsteneysee, bei Km 130. Ich komme ins warme, gemütliche, geheizte Caffee und setze mich erst mal an den Tisch. Lauter nette Leute, alle gut drauf. Ich bekomme wieder Kartoffelbrei, diesmal offensichtlich aus richtigen Kartoffeln selbst gemacht. Ich muss nur grade mal meinen Kopf auf die Tischplatte legen, nur eine Minute. Dann liege ich auf einmal an der Seite, unter einem Tisch. Susanne hat das Beste aus der Situation gemacht: statt mich zu reaktivieren hat sie mich schlafen lassen. 30 Minuten döse ich so auf dem Boden vor mich hin, kurze Traumphase, weiter.
Die Nacht ist irgendwie bald zu ende, es wird schnell wieder hell. Mir tut jetzt alles weh, ich komme kaum noch voran und ich muss immer weiter marschieren. Laufen wird immer weniger. So komme ich nie ans Ziel.
Aber irgendwie geht es dann doch immer wieder weiter. Schlumpftechno bringt mich weiter. Immer, wenn ich in der Musik bin, läuft es gut. Meine Birne ist jetzt so weich, dass ich beim Laufen zurück in den 90ern bin, in der Disco auf der Tanzfläche. Der Bass ist da und ich tanze. Ich war immer der Typ, der seine Kumpels ab 21:00 genervt hat, wann wir endlich hin fahren. Und um fünf vor zehn stand ich vor der Tür und habe gewartet, dass ich endlich rein durfte. Dann kam der Beat und irgendwann ging das weiße Neonlicht an und meine Freunde haben mich mit müden Gesichtern zum Auto geschoben. Und dann standen wir auf dem Mc-Doof-Parkplatz und Udo hat für mich den Motor laufen lassen, damit die Musik in seinem Auto an bleiben konnte und ich stand hinter dem offenen Kofferraum und habe immer noch weiter getanzt, während die anderen drinnen gefrühstückt haben.
Solange ich in der Musik und ganz weit weg bin, habe ich keine Schmerzen, keine Probleme, keine Erschöpfung. Und dann kommt eine Ampel, ein falscher Schritt, eine Ablenkung und ich bin zurück auf dem Ruhrtal-Radweg. Ich sitze teilweise weinend am Rand, kann und will die Schmerzen nicht mehr ertragen. Knie, Hüfte, Blasen: alles aua.
Glücklicherweise werden die Restkilometer doch irgendwann weniger. Ich rufe mir immer wieder zu: "Nur noch eine Brocken-Challenge", " Noch ein Rennsteig", "Einmal P-Weg" . Und jetzt ist es nur noch Marathon. Und so langsam, ganz langsam fange ich selber an zu glauben, dass ich es schaffen kann. Ich treffe jetzt immer wieder auch andere Läufer, nicht nur weil viele von denen jetzt gegen Ende noch langsamer werden als ich, sondern auch weil mit 100km-Bambinis und 100Meilern auch viel mehr Läufer auf der Strecke sind.
Susanne, die auf dem Rad bei mir ist, kann es nicht lassen und erzählt allen Interessierten, was für einen Lauf ich hier bestreite. Ich kann es ihr nicht übel nehmen, denn das hat mir als Supporter auch immer Spaß gemacht. So kann man die Leute richtig überraschen. Und ich bekomme immer wieder den Daumen ganz nach oben gezeigt (hören kann ich nichts außer dem Schlumpftechno aus den Kopfhörern).
Irgendwo bei Kilometer 200 macht Susanne dieses Video von mir. Flo im Flow. Ich kann mich nicht dran erinnern, je so gelaufen zu sein. Laufen ist ganz weit weg, Parallel-Universum, leicht und einfach. In der Lauf-Welt ist Licht und Glück und alles ist perfekt. Sobald ich aus der Lauf-Welt in die Realität wechseln muss, bin ich am Ende. Schmerzen, nur noch Schmerzen. Teilweise laufen mir auch beim Laufen die Tränen über die Wangen. Susanne meint, ich hätte mit mir selber gesprochen, mich teilweise angefeuert oder auch geschrien. Davon weiß ich nichts. Ich habe nur immer weiter getanzt.
Mintarder Brücke. Die letzte Messtelle. Jemand fragt die Besatzung, wann denn der Cut-Off dieses VP ist. Zwei Männer sehen sich überrascht an.
Dann sagt der eine: "Wenn das Bier alle ist!"
Worauf der andere erwiedert: "Das können wir beschleunigen!"
und die Flasche hebt. Locker hier.
Die Sonne scheint, es geht weiter. Susanne ruft mir zu, dass im Ziel meine Familie und viele Freunde auf mich warten. Ich höre es. Ich will nicht mehr laufen, ich will, dass es zu ende ist. Aber jetzt kann ich niemanden mehr enttäuschen. Jetzt nicht mehr. Ich laufe.
Und die Kraft ist da. Ich weiß, dass mich mein blinder Ehrgeiz jenseits des Schmerzes bringen kann. Dass kann er immer, solange ich die Kraft zum rennen habe. Und die habe ich. Meine Sehnen, Bänder, Gelenke: alles tut weh, aber die Muskeln wollen rennen. Jetzt endlich dürfen sie. Bremse raus. Tempo rein.
Keine Schonung mehr, keine Zurückhaltung, keine Limits, keine Kompromisse. Jetzt bin ich drüben. Jetzt will, kann und darf ich endlich rennen. Dafür ist "flach" da: rennen. Ich bin heiß, ich WILL überholen. Und das mache ich. Musik am Anschlag, Kreislauf sicher auch. Schneller, immer schneller. Ich brenne und ich renne. So geil. Geschwindigkeit statt Schmerzen. Ich weiß, dass ich das nur fünf Kilometer weit schaffen kann, aber es sind nur noch drei, zwei, eins...
Und dann ist es da. Der lange Damm auf den Rhein zu. Ich bin in meinem Kopf in den letzten zwölf Monaten so oft hier lang gelaufen. Genau so habe ich mir das immer vorgestellt: ich renne auf das Rheinorange zu, voller Kraft und Energie. Und so ist es, der Traum ist wahr. Ich komme immer näher, sehe alles, ich renne die letzte Meter, ich schreie und bin da.
Ich halte mich fest und breche zusammen. Schmerz wie eine Brandung, die über mir zusammen schlägt. Ein Knall! Was war das? Habe ich was kaputt gemacht? Es regnet goldene Sterne. Was passiert hier?
Elias hat ein Feuerwerk gezündet und goldene Alu-Sterne verschossen: wie geil ist das denn? Jemand will mir aufhelfen, aber ich habe Angst, bitte vorsichtig!
Dann liege ich in meinen Liegestuhl, alles ist friedlich. Alle sind da. Meine Kinder, mein Schatz, meine Freunde. Ich bin glücklich, ich weine.
Irgendwie fährt mich ein Bus zu Hostel und ich schaffe es sogar zu Duschen. Und danach essen wir alles zusammen und ich bekomme meine Urkunde und meine Gürtelschnalle und alles ist gut.
Fazit: Nie wieder. Wenn ich je wieder zu so einem Lauf starte, dann will ich viel besser Trainiert sein, so dass ich ohne Schmerzen durch komme. Zumindest nicht so schlimm.
Danke an Susanne und Elias: ohne Dich hätte ich es niemals geschafft. Danke an Jens für die super Orga! Danke an all die Helfer und Sponsoren, die dieses Event möglich gemacht haben. Großartig!