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2006 - Von Göttingen auf den Brocken

Geschrieben Februar 2006

Du weißt, daß Du was ziemlich verrücktes machst, wenn das Fernsehen dabei sein will.
Die Brocken-Challenge ist offenbar verrückt genug, denn am Freitag morgen war der WDR bei mir zu hause und hat Markus und mich ein paar Minuten beim Aufbruch zu diesem Abenteuer gefilmt. Dafür sind wir am heimischen Baggerloch ein paar mal vor der Kamera hin und her gelaufen. Außerdem haben wir einen Bericht der Brocken-Challenge vom Vorjahr auf DVD gezeigt bekommen, während unsere betretenen Gesichter gefilmt wurden. Ich gebe zu, der Film hat mich beeindruckt. Bisher bin ich ja nie weiter als 67km gelaufen, das war 2003 beim Rheintal-Ultra und flach wie Holland. Ok, im letzten Oktober, da habe ich den Röntgenlauf gemacht, der immerhin 63km und 1100 Höhenmeter hatte, aber bei diesem Unterfangen ging es um 84km mit über 2000 Höhenmetern, Schnee, Kälte, Wege nach Karte suchen und vieles mehr. Dieses Abenteuer ist da eine ganz andere Liga!


Kaum war das Kamera-Team weg, sind Markus, Bodo (der uns auf dem Fahrrad begleiten würde) und ich im Auto nach Göttingen gefahren. Dort haben wir bei der Vorbesprechung auch viele der anderen Teilnehmer getroffen. Markus Ohlef, der Organisator und Initiator der Brocken-Challenge hat Weg und Bedingungen ausführlich erläutert, wärend wir Chris, der ebenfalls mit seinem Fahrrad bei uns sein würde, getroffen haben.
übernachtet haben wir, zusammen mit anderen Läufern, bei Ulf, der in der Nähe eine ur-gemütliche Scheune bewohnt und auch mitlaufen würde. Das Handy macht uns um 4:30 wach und wir erheben uns gähnend von den Isomatten. Es herrscht eine Stimmung wie in einer Berghütte, und ich fühle mich wie vor einer großen Bergfahrt. Das ist es ja auch, was wir heute vorhaben, nur nicht in den Alpen. Wir frühstücken gemeinsam in der gemütlichen Küche und packen unsere Sachen zusammen. Um 5:00 fahren wir vom Ulf nach Göttingen zum Start.
Dort sind schon einige andere Starter bei den letzten Vorbereitungen und auch der NDR ist schon im einem Kammera-Team vor Ort. Ich werde beim Joghurt essen gefilmt, mache ein paar altkluge Bemerkungen in die Kamera und bin insgesamt erstaunlich pessimistisch gestimmt. Es könnte so viel schief gehen. Im Nachhinein kann ich sagen, daß gerade die Dinge, die um die ich mir am meisten Sorgen gemacht habe, die unproblematischsten waren, und ich die wahren Schwierigkeiten leider erst während des Laufes bemerken werde.


Chris ist schon da und abfahrbereit, Bodo kommt mit den anderen grade noch rechtzeitig zum Start, keine Minute zu früh. Wir packen die nötigsten Sachen in Bodos Satteltaschen, da ertönt um uns rum schon Stimmengewirr. Ups, die starten ja schon. Ich bin innerlich noch längst nicht soweit, wäre gerne noch mal alles durchgegangen, hätte noch mal alles besprochen und überprüft, aber dafür ist jetzt keine Zeit mehr: es geht los. Wir laufen vom Parkplatz aus einen pechschwarzen Weg entlang und der Schnee knirscht unter unseren Füßen. Es läuft sich leicht hier, denn die Schneedecke ist fest getreten und ich sinke nur wenige cm ein. Vor uns sehe ich die Stirn- und Fahrrad-Lampen der anderen Läufer, dann wird es dunkel, als wir langsam zurückfallen. Nach einer Viertelstunde wird mir langsam warm, und wir machen den ersten Halt, um die Fleece-Pullover auch noch auf Bodo's Fahrrad zu packen. Außerdem schnalle ich noch meinen Trinkrucksack auf seinen Gepäckträger. Nicht, weil er mir zu schwer wäre, sondern weil der Rucksack aus irgendeinem Grund ausgerechnet heute tropft. Das Wasser lief mir hinten den Rücken runter und hat schon meine Hose durchnässt. Das war aber nicht das einzige Problem, das mir das Ding machen sollte.


Als wir wieder los laufen, sind die letzten Lichter vor uns schon verschwunden. Wenige Minuten später schon der nächste Halt: die Spuren, denen wir bis hierher gefolgt sind, sind verschwunden. Schnee ist doch eine tolle Sache, denn jetzt im Finstern können wir noch keinen einzigen der, angeblich unübersehbaren, orangen Wegmarkierungen erkennen. So üben wir uns im Fährten lesen und folgen den Fuß- und Radspuren und kommen auf diese Weise bis Sonnenaufgang einigermaßen voran.
Viele der Straßen, über die wir gelaufen sind, waren mit einer, nur wenige Millimeter dicken, Eisschicht überzogen. Diese Eisschicht war so glatt, daß wir uns tatsächlich gegenseitig ziehen konnten, wie auf Schlittschuhen. Den anstrengenden Spaß haben wir aber nur mal kurz ausprobiert, um die beiden Radler, Chris und Bodo, zu warnen. Für die war das nämlich richtig gefährlich. Als ich Durst bekam und einen Schluck aus meinem Rucksack trinken wollte, der auf Bodo's Fahrrad war, stellte ich fest, daß das Wasser im Trinkschlauch komplett durch gefroren war: fest. Ich würde den Trinkrucksack also unterwegs nicht verwenden können und meine Flüssigkeitsversorgung anderweitig sicher stellen müssen. An der ersten Verpflegungsstelle habe ich also, wie an allen folgenden, besonders reichlich getrunken.


Es ging nun meist über gute Waldwege auf festem Schnee oder entlang kleiner, wenig befahrener Straßen. Wenn sich Dörfer nicht umgehen ließen, sind wir auch schon mal durch gelaufen, überwiegend liefen wir aber durch eine anscheinend recht dünn besiedelte Landschaft. Viel zu sehen war davon aber nicht, denn es war recht diesig. Die Sichtweite war immer von einigen 100 Metern bis zu einem Km, und die Sonne wollte nicht durchkommen. Ab und zu hatte ich den Eindruck, ich wäre auf einem Laufband in einer Käseglocke aus milchigem Glas: die Gegend zog wie unbemerkt an mir vorbei. Ich glaube, wir sind in dieser ersten Phase meistens bergab gelaufen. Falls mal ein kurzer Anstieg kam, ging es gleich darauf wieder ein ganzes Stück bergab. Auf jeden Fall war es ganz leicht zu laufen, wie von selbst.


Etwa bei Km 38 ist Bodo klar geworden, daß er nicht fit genug für die ganze Strecke war und hat sich zur Verpflegung&sstelle "Lausebuche" bei Km 65 bringen lassen. Kurz nach dem er uns verlassen hat, haben wir den ersten Marathon mit 5:40 voll gemacht. Von Barbis an ging es ein Stück bergauf, bis zur Wasserscheide. An diesem Pass war die Kreuzung nicht, wie die Strecke vorher, mit den BC-Pfeilen gekennzeichnet, so daß wir ratlos versuchten, die verschiedenen Wegspuren zu lesen. Leider gingen in alle Richtungen Läufer- und Fahrrad-Spuren ab. Erst mal Handy raus, und jemanden fragen. Dabei habe ich dann gemerkt wie sehr die Kälte, es war etwa -5°C, meinem Akku zugesetzt hat. Er war nämlich fast alle. Der Helfer an der nächsten Verpflegungsstelle wusste es auch nicht, aber genau in diesem Moment kam Anke zu ihm, die sich genau an der Stelle, wo wir gerade standen, verlaufen hat. Daher die Spuren in alle Richtungen. Hier hatten wir also noch mal richtig Glück, aber die Streckensuche sollte nicht so leicht bleiben.
Ich hatte schon mächtig Durst, als wir das Steinaer Tal rauf zur Jagtkopfhütte gelaufen sind. Dort oben war leider das Trinken alle. Dafür ging es ab jetzt durch richtig tiefen Schnee entlang der Loipen. Dabei mussten wir sehr aufpassen, nicht die Ski-Spuren zu betreten, da das Bedingung für die Genehmigung des Laufes war. Das Orga-Team in Person von Markus Ohlefs hat uns das nicht nur Freitag Abend, sondern auch am Start mehrmals eindrücklich gesagt. Also immer zwischen den Spuren dahingestapft.


Da sich die Streckenbeschreibung jetzt auf die Loipen-Bezeichnungen bezog, die aber nicht in der Wanderkarte eingetragen waren, standen wir an fast jeder Ecke etliche Minuten ratlos rum. Wir haben die Spuren gesucht, die Schilder betrachtet und die Karte studiert. Trotzdem sind wir irgendwann vom Weg abgekommen, und standen an einer Stelle, die wir auf der Karte absolut nicht mehr finden konnten. Ich hatte großen Durst und war heilfroh, daß Chris noch eine Trinkflasche dabei hatte, aus der ich ab und zu trinken konnte. Wir haben uns dann auf gut Glück einen Weg gesucht, der eigentlich wieder in Richtung Brocken-Challenge-Strecke führen sollte. Tatsächlich hatten wir wieder Glück: bereits an einer der nächsten Kreuzungen haben wir den Weg wieder getroffen. Mir war ab diesem Moment klar, daß wir spätestens mit der Dunkelheit deutlich größere Probleme mit der Route haben würden.


Kräftemäßig ging es mir immer noch sehr gut. Ich hatte permanent den Eindruck bergab zu laufen, was aber auch an dem Nebel gelegen haben kann. Irgendwann zwischen Jagdkopf und Lausebuche hat sich Chris dann abgesetzt. Ihm war unser Tempo einfach zu langsam, so daß er sich gelangweilt hat. Dabei hat er die ganze Zeit sein Fahrrad geschoben, sogar durch den Schnee, wo alle anderen Radfahrer eine andere Strecke über den Asphalt gefahren sind.

An der Lausebuche habe ich ihn dann noch einmal gesehen, aber er war gleich wieder auf dem Weg zum Gipfel. Glücklicherweise war Bodo mit den Satteltaschen an dieser Verpflegungsstelle, so daß ich mir einen meiner Pullis anziehen konnte. Ausserdem war der NDR hier und hat mich und Markus ein bisschen gefilmt. Markus hatte eine große Blase unter dem linken Fußballen, die das Fernseh-Team ausführlich aufgenommen hat. Schade nur, daß man im Fernsehen nachher nicht das erschreckte Gesicht des Kameramanns sehen konnte. Markus war auch Konditionell nicht mehr ganz so fit wie ich, so daß ich zwischen den Stationen immer vorgelaufen bin, um nicht aus zu kühlen. Er dagegen ist die Strecke gewandert. Dadurch hatte ich an allen Verpflegungspunkten mindestens zehn Minuten mehr Pause als er, weil ich immer auf ihn gewartet habe. Vielleicht war ich auch deshalb so wenig angestrengt.


Das Markus nicht schneller konnte, war ein unglücklicher Umstand, wie sich bald raus stellen sollte. Mein Handy war längst mangels Batterie ausgegangen, und ich lief also alleine voraus in die einbrechende Dunkelheit.
Es kam wie es kommen musste: an einer der zahlreichen Gabelungen bin ich falsch abgebogen. Nach etwa einem Kilometer habe ich meinen Irrtum bemerkt und bin umgekehrt, war damit aber natürlich hinter Markus, der mich weit vor sich wähnte. Am Verpflegungspunkt Königskrug habe ich die Helfer gerade noch erwischt, bevor sie mit ihrem Auto abgefahren sind, denn Markus dachte, er wäre der Letzte. Ich habe ihn dann vom Handy der Helfer aus angerufen, damit er in Oderbrück auf mich wartet, und bin ihm nach gelaufen. Es war nun schon wieder schwarze Nacht in dem einsamen Wald, schön aber unheimlich. Ich habe ganz besonders aufgepasst, daß ich den Weg nur ja nicht wieder verliere. Später habe ich erfahren, daß fast alle, die den Lauf zum ersten mal gemacht haben, mehr oder weniger große Umwege gemacht haben. Es gab aber durchaus auch Läufer, die den Weg anhand der vollständigen Karte auf anhieb gefunden haben (Verlaufen ist also eigene Blödheit;-) In Oderbrück bei Km 75, war ich jedenfalls sehr froh, nicht mehr allein zu sein.

Die Helfer wollten uns anfangs gar nicht wieder auf die Strecke lassen, weil es auf dem Brocken-Gipfel inzwischen sehr nebelig und eisig kalt war, aber ein kurzes Telefonat mit Markus Ohlef brachte uns die ersehnte Genehmigung. Ich habe meine Stimme auch besonders fest und selbstbewußt klingen lassen. In Wahrheit hatte ich vor diesem letzten Teilstück nämlich schlicht Angst. Auch wenn ich wußte, daß mein Gefühl, die meiste Zeit bergab zu laufen, falsch war, so lag die größte Steigung doch definitiv jetzt vor uns.


Mit der festen Absicht, uns jetzt keinesfalls noch mal aus den Augen zu verlieren, sind wir dann auf die letzte Etappe gegangen. Der Weg führte über die Höhen des Brocken durch den tief verschneiten Winterwald. Es war absolut still, sehr kalt und völlig Sternenklar. Diese Kilometer unter dem perfekten Nachthimmel durch den Märchenwald waren unbeschreiblich schön. Egal wie viele Stunden ich trainiert habe. Nach der Arbeit. Im Regen. Todmüde. Egal wie lange ich mich für dieses Abenteuer vorbereitet habe. Alles hat sich gelohnt, für diese wunderbare Stunde auf dem Brocken. Es gibt keine Worte um zu beschreiben wie überwältigend schön diese Landschaft dort oben im Schnee ist. Ein Traum aus Weiß und Schwarz. Sterne am Nachthimmel und Tiefschnee im Bergwald. Unglaublich.

Als wir aber über die Baumgrenze kamen, wurde es merklich ungemütlicher. Der Wind pfiff wirklich bitter kalt, zumal wir wegen Markus Blasen nicht laufen konnten. Ich war bis auf die Knochen durchgefroren und hatte Eisfinger. Ausserdem wurde die Sicht immer schlechter. Endlich erreichten wir die Gleise der Brockenbahn, die unseren Weg kreuzten.
Wir wussten, daß wir diesen Schienen bis zur Brockenstraße folgen mussten. Nur: in welche Richtung? Nach links oder rechts? Markus war sicher, daß es nach links gehen musste, und ich bin voller Zweifel mit ihm gegangen. Schon bald merkte ich, daß die Bahnstrecke keinesfalls auf den Gipfel führen würde, weil die Gleise bergab liefen. Ich spürte es ganz deutlich: wir verloren mit jedem Schritt an Höhe. Zu sehen war davon allerdings, in dem jetzt herrschenden dichten Nebel, nichts. Wir hatten uns für die falsche Richtung entschieden, aber Markus war immer noch von seiner Entscheidung überzeugt.

Irgendwann wurden die Schienen von einem schmalen Fahrweg, kaum breiter als ein Auto, gekreuzt, und er behauptete, daß wäre gewiß die Brockenstraße. Immerhin ging es auf dem Weg bergauf, sogar ich merkte das. Wenige Meter später kamen wir an eine Stelle, an der beim Brocken-Marathon im Oktober eine Verpflegungsstelle aufgebaut war, an die ich mich sehr lebhaft erinnern konnte. Markus hatte also die ganze Zeit recht gehabt! Tatsächlich, da waren schon die Lichter des Bahnhofs über uns zu sehen! Hurra, wir sind fast da! Riesige Erleichterung erfasst mich, ich bin begeistert und singe aus vollem Hals. Wir haben es geschafft. Und wer steht dort oben am Gipfel und wartet auf uns: mein alter Schwedenpanzer! Er hat den ganzen Tag dem Orga-Team als Last-Esel gedient, und steht vollgestopft mit Material von den Verpflegungsstellen hier oben. Er hat es also auch bis hier hin geschafft!


Was ich gelernt habe:
=>Flasche (unter der Jacke getragen) statt Trinkrucksack
=>Laufen im Schnee ist sehr gelenkschonend
=>In dem Tempo hätte ich noch sehr viel weiter laufen können
=>Ich werde Compeed-Pflaster und eine Nagelschere mitnehmen
=>Mein Handy darf nicht kalt werden
=>Fernsehen machen ist viel spannender als Fernsehen schauen


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