2002 Ein Lebensjahr ist wie ein Marathon
Brief an eine Freundin
Geschrieben Ende 2002
Liebe Freundin,
und schon wieder haben wir eine Woche überlebt. Ich muß noch eine Woche im
Oktober arbeiten, zwei im November und drei im Dezember, dann ist das Jahr auch
schon wieder vorbei (ich habe noch (Urlaub;-), alles zusammen noch 29
Arbeitstage.
So ein Jahr ist wie ein Marathon, vor dem Loslaufen habe ich bestimmte Ziele,
nehme mir ein Zeitlimit vor und lege mir eine Strategie zurecht.
Nach 10km habe ich dann das Gefühl: "das ist aber lang, erst mal weiter
machen, dann hoffen" Die erste Euphorie beim Start ist zu diesem Zeitpunkt
verflogen und die Zuschauer an der Strecke gelangweilt (ich bin meist einer der
letzten Läufer).
So auch im Laufe eines Jahres. Im Vorfeld setzte ich mir Ziele für das kommende
Jahr und mahle mir aus, was ich erreichen kann und möchte. Wenn die
Silvesterparty langsam in Vergessenheit gerät (war das nicht schon letztes
Jahr?), steht im Februar mein Geburtstag vor der Tür. Danach ist Karneval und
danach ist der Winter vorbei und ich stelle fest, daß ich meinen Zielen keinen
Meter näher gekommen bin.
Kurz nach der Hälfte des Marathons kriege ich meistens ein mentales Tief und
werfe alle Ziele über Bord, denke an aufgeben. Dies ist die schlimmste Phase im
Rennen für mich, so zwischen Km 25 und 30. Aus irgend einem Grund weiß ich in
dem Moment sicher, daß ich es heute nicht schaffen werde. Ich werde aufgeben
und zum Gelächter aller Umstehenden mit meiner bunten Papageien-Sportjacke zur
Straßenbahn humpeln.
Wenn ich spüre, daß dieses Tief kommt, mache ich eine
Gehpause. Ich zwinge mich zum Essen und Trinken und genieße mit grimmigem
Gesicht den Lauf.
Wenn der Sommer kommt, macht sich bei mir die Erschöpfung breit, die Kollegen
gehen mir auf den Geist und ich streite mich immer öfter mit meiner Frau. Mir
wir langsam klar, daß ich meine Ziele wohl vergessen kann und das drückt meine
Laune. Wenn es soweit ist, dann wird es Zeit für einen Sommerurlaub. Weit weg
fahren, die Sonne genießen, etwas erleben.
Mein Training bekommt in dieser Zeit immer einen Kick, weil ich einen
morgendlichen Lauf nicht um 04:00 Uhr in pechschwarzer Kälte machen muß und
dafür nicht mit einem tot müden Tag bestraft werde. Erstens stehe ich zum
Laufen erst um 07:00 Uhr auf. Dann genieße die frühe Wärme und den einsamen
Strand. Zweitens mache ich Mittags eine kleine Siesta und schlafe mich wieder
aus. Vor allem aber gibt es wieder neue Strecken zu entdecken, nicht immer die
selben altbekannten Kilometer.
So ein Urlaub ist meine Gehpause im Jahr.
Nach der Gehpause im Marathon ist das Tief vorbei, plötzlich ist mir klar, daß
ich es gleich geschafft habe; genauso klar wie wenige Minuten vorher das
Gegenteil (blöde Psyche). Ich bringe noch schnell die letzten Km hinter mich
und bin mit dem Erreichten meistens fast zufrieden und stolz.
Für 2002 gilt dieser Ablauf mal wieder besonders: kurz vor Weihnachten 2001
habe ich eine neuen Arbeitsvertrag unterschrieben, für einen neuen Job in einer
anderen Firma in einer Anderen Stadt.
Meine Ziele für 2002 waren, mich in diese neuen Aufgaben gut einzuarbeiten,
mich in der neuen Umgebung ein zu leben und persönlich und finanziell am Ende
des Jahres auf halbwegs sicherem Grund zu stehen. Das schlechte an diesem Jahr
war, das ich aufgrund der Probezeit keinen längeren Urlaub nehmen konnte und
aufgrund des Umzugs mir auch keinen hätte leisten können. Als dann noch ein
paar ernste Gespräche mit dem Boss nötig wurden, hatte ich die Hoffnung schon
fast aufgegeben.
Aber das Wetter war an den meisten Wochenenden schön, wir haben dieses Jahr
mehr im Garten gegrillt als in der Küche gekocht und mit den Fotos vom letzten
Urlaub auf dem Schreibtisch habe ich auch das überstanden. Auf Marathon bezogen
wären das viele kleine Gehpausen statt einer großen, sollte ich mal probieren.
Und jetzt ist das Jahr beinahe um, noch 29 Arbeitstage. Meinen Job habe ich
noch, das Familienleben lebt sich noch und die Bank hat unser Konto immer noch
nicht gekündigt: wir haben überlebt, Ziele im Wesentlichen erreicht.
Meine persönlichen Ziele für nächstes Jahr überlege ich mir später, eines habe
ich jedenfalls schon ganz fest im Blick: ein langer, schöner Urlaub!
zurück zur Startseite